Clara Katz wurde in Czernowitz in einer jüdischen Familie geboren. Als der Krieg begann, war sie gerade fünf Jahre alt. Im August 2016 sprachen wir mit ihr im jüdischen Museum in Czernowitz.
(Hintergrund ist die Deportation der Bukowina Juden durch deutschen Besatzer nach „Transnistrien“. Etwa 185.000 Juden und Roma kamen dort in Todeslagern um. Auf den Märschen kam es zu Massenerschießungen u.a. am Fluss Dnjestr. Vor allem im harten Winter 1941/42 starben Zehntausende an Hunger, Krankheiten und Entkräftung.)
„… Als wir den Dnjestr auf der Brücke überquerten, war es sehr beängstigend, die ganze Zeit wurden Schüsse abgefeuert (Maschinengewehrsalven). Die verletzten und sterbenden Menschen fielen in den Fluss und der Dnjestr war rot von Blut. Es war schrecklich. Auf dem Todesmarsch sollten wir unsere Wertsachen übergeben. Wir hatten keine Wertsachen, aber Mama und Papa hatten einen Ehering und Papa sprach zu uns. „Ich sagte ihnen, diese Ringe werden nicht aufgegeben.“ Er nahm seinen Ring ab und meine Mutter auch und sie warfen sie in den Fluss. Als wir die Brücke überquert hatten, gab es dort nur sehr wenige Menschen, weil so viele während des Übergangs gestorben sind.“
„Dann kamen wir in das Lager „Pechora.“ – ein schreckliches Todeslager. Das erste Gebäude sah aus wie eine Schule, nur ohne Fenster und Türen, wir haben uns aber gefreut, dass wir endlich hier auf dem Boden sitzen und schlafen konnten. Mein kleines Brüderchen, er war kurz vor dem Krieg geboren, starb dort elendig. Ich werde das mein ganzes Leben lang erinnern – er war sehr schön: so hell, mit blauen Augen. Mutter tat was sie konnte, aber ohne Hilfe starb das Baby.
Meine Mutter schrie vor Trauer, dann kamen zwei Faschisten, einer ergriff meinen toten Bruder und warf ihn einfach in einen nahe gelegenen Graben. Es war schrecklich, was mit uns passiert ist.
Papa tröstete meine Mutter so gut er konnte und sagte ihr, dass dies wahrscheinlich sein Schicksal war. Mutter war erschüttert, dass wir nicht einmal wissen würden, wo sein Grab läge und mein Vater sagte: „Viele Menschen wissen nicht, wo die Gräber ihrer Angehörigen sind. Beruhige dich bitte.“ Meine Mutter fiel in Ohnmacht, mein Vater brachte sie wieder zu Bewusstsein. Es war schwer zu überleben und noch schwerer zu erinnern.
Im Lager gab es am Morgen diese Zählappelle. Jeder Block hatte 10 mal 10 Menschen. Unser Block war Nr. 11. Die ersten zehn Blöcke wurden ausgewählt, um erschossen zu werden.
Vater hat mir gesagt, dass der Boden (von Schüssen und Körpern) bebte, als er die Baracke verlassen hatte. Unter den Leichen hörte er Schreie und fand einen Jungen. Wir hatten ihn schon früher gesehen, er war zwölf oder dreizehn Jahre alt. Als mein Vater ihn zu uns gebracht hatte, war aus ihm ein alter Mann mit grauen Haaren geworden. Er zitterte am ganzen Leib und es schüttelte ihn die ganze Zeit. Seine Mutter hatte sich bei der Erschießung schützend vor ihn geworfen und hatte es geschafft, ihn nach unten zu schieben.
Nach diesem Vorfall haben wir verstanden, dass es sehr schwierig sein würde, im Lager am Leben zu bleiben. Vater versammelte uns und sagte: „Hier erwartet uns nur der Tod, und wenn wir fliehen und gefasst werden, wartet auch der Tod. Also riskieren wir die Flucht, vielleicht kann einer von uns überleben. „Vater fand eine Lücke im Zaun und wir entkamen in die dunkle Nacht, weg von „Petschora“. Am Nachmittag versteckten wir uns im Wald und mein Vater versuchte irgendwo im Dorf, ein Stück Brot oder Kartoffeln zu bekommen. Leute haben tatsächlich ihr Letztes mit uns geteilt.
Eines Abends kam die Patrouille. Aber wir wurden nicht getötet, sondern in ein anderes Lager gebracht. „Skazenets“ war aber auch ein Todeslager. Es war sehr schwierig dort, die Menschen hungerten, die Menschen verhungerten.
Eines Tages jagte mich ein Polizist. Ich lief weg und verletzte mich am Bein. In diesem Lager gab es einen sehr guten (vermutlich deutschen) Arzt. Er kam, weil er den Lärm gehört hatte und fragte, was geschehen war. Er sprach leise und beruhigte die Situation irgendwie. Er kam, wusch und verband meine Wunde. Seitdem war er zu mir sehr lieb und sagte, dass ich ihn an seine Tochter erinnern würde. Immer, wenn er konnte, gab er mir ein Stück Brot oder etwas Anderes. Er bat um Erlaubnis bei meinen Eltern, dass ich tagsüber zu ihm komme und im Haushalt helfe. Er sagte, dass ich das machen soll, was ich kann, mehr nicht. Falls aber jemand vorbeikommt, würde er schimpfen. Ich müsse aber keine Angst haben. So schützte er sich selbst.
Ich ging für eine längere Zeit zu ihm. Aber eines Tages sagte er mir, ich könnte nicht mehr kommen. Das bedeutete wohl, dass etwas geschehen war…
Vater beschloss, dass wir wieder fliehen sollten und wir flohen. Wir schafften es, nach Mogilev-Podolski zu kommen. Wir lebten dort im Ghetto in einem Raum.
Dort gab es ab und zu Erbsensuppe, auf die wir in einer langen Reihe warten mussten. Einmal, als wir wieder für Suppe anstanden, war vor uns ein alter Mann auf Krücken in der Schlange. Er bat die Leute ihn vorzulassen, weil er kaum stehen konnte. Kaum hatte er etwas Suppe in seinen Teller bekommen, stieß ein Polizist ihn zu Boden und der Polizist begann ihn schrecklich zu schlagen und zu treten. Er blutete aus dem Mund, bekam schreckliche Krämpfe und starb auf der Stelle. Seither konnte ich über 50 Jahre lang keine Erbsensuppe essen oder kochen – die schreckliche Erinnerung tauchte sofort vor meinen Augen auf.
In Mogilev-Podolski blieben wir bis März 1945. Am Vorabend der Befreiung hatte Papa gehört, dass die Rote Armee sich nähert. Aus Angst vor den Nazis, die vielleicht auf der Flucht alle töten könnten, um die Spuren zu vernichten, mussten wir uns erneut verstecken. Eine Anwohnerin sagte uns: „Ich habe einen Keller, kommt!“ Wir saßen dort die ganze Nacht. Am Morgen öffnete sich die Tür ganz plötzlich langsam. Wir schrien und weinten, dachten, dass wir jetzt alle erschossen werden. Aber ein Soldat hob die Hand: „Ruhig, ruhig, weint nicht! „Er zeigte uns den roten Stern auf seiner Mütze und wir weinten wieder, aber jetzt vor Freude. Er sagte uns, wir könnten nach Hause gehen… Und am nächsten Morgen rückte dann die Rote Armee ein und wir feierten die Befreiung.“
Nach ihrer Befreiung kehrte die Familie nach Czernowitz zurück. Die kleine Clara ging zur Schule. Nach der Schule ging sie erst auf eine pädagogische Hochschule und absolvierte dann die Universität. Ihr ganzes Leben lang hat sie als Lehrerin in Czernowitz gearbeitet.