Nelly Tsypina

Ich wurde am 16.September 1932 in Dnepropetrovsk geboren. Mein Vater war damals Student an der Bergbauhochschule. Nach dem Studium bekam er eine Stelle in Donbass und unsere ganze Familie übersiedelte dorthin.

In der Familie waren 6 Kinder. Meine Mutter war die jüngste und Tante Rosa – die älteste. Tante Rosa war nicht verheiratet, hatte keine eigenen Kinder und sie kümmerte sich um mich. Sie war Ärztin in der Eisenbahnerklinik in Dnepropetrovsk. Da ich Kniebeschwerden hatte, bot sie meinen Eltern an, mich nach Berdjansk zu begleiten um meine Gelenke im Moorbad behandeln zu lassen. Wir waren dort als der Krieg ausbrach. Meine Tante als Wehrpflichtige sollte sofort zurückfahren. Sie brachte mich zum Opa nach Dnepropetrovsk. Mein Opa wollte von der Evakuierung nichts hören. „Die Deutschen sind ein zivilisiertes und wohlerzogenes Volk. Uns kann nichts passieren“, sagte er. Wir warteten auf meine Eltern, die mich abholen sollten. Als mein Opa endlich zugestimmt hatte, fuhren wir zum Bahnhof. Wir drängten uns in einen Waggon und warteten auf die Abfahrt, als plötzlich der stärkste bisher in Dnepropetrovsk Bombenangriff auf Bahnhof begann. Unser Waggon schaukelte von den Schockwellen. Es gelang uns aus dem Waggon herauszuklettern und wir verließen den Bahnhof. Wir zogen in die Wohnung der evakuierten Verwandten in der Nähe. Es ist uns nicht gelungen zu fliehen. Die Stadt wurde von den deutschen Truppen besetzt und kurz darauf waren überall auf den Zäunen Blätter zu sehen mit dem Befehl an Juden, den sechszackigen Davidsstern zu tragen und dem Verbot die Restaurants und Cafés, die noch in Betrieb waren, zu besuchen. Einige Zeit später kam ein neuer Befehl heraus, dass alle Juden mit Wertsachen neben dem Warenhaus am Marxprospekt sich versammeln sollten. Wer nicht kommt – wird erschossen. Die Menschen bildeten eine lange Kolonne, darunter Kinder. Manche fuhren in Kutschen. Sie ahnten nicht, wohin sie abtransportiert werden – wahrscheinlich nach Palästina, dachten sie. Die Kolonne marschierte Richtung Bahnhof, dann an den Bahnhof vorbei. Einige sagten, es gäbe einen Güterbahnhof und wir würden von dort abfahren. Manche hatten schon eine Vorahnung. Ich erinnere mich, wie ein junger Mann einer weinenden Frau sagte „Warum weinen Sie? Es ist nicht schrecklich durch eine Kugel zu sterben – es dauert nur einen Augenblick!“ Wir verließen die Stadt und zogen durch die Steppe. Ich lief die Kolonne entlang. Ich hatte keine Angst, da ich es einfach nicht kapierte. Ich sah einen unserer Nachbarn auf dem Boden liegen, er hatte ein kleines Rundes Loch im Kopf.

Nachdem wir die Stadt verlassen haben, wurden wir von den Deutschen in schwarzer Uniform mit Hunden weiterbegleitet. Wir wurden an einem Zaun angehalten und dem Zaun entlang verteilt. Das war am früheren Nachmittag, um 12, vielleicht 13 Uhr. Plötzlich fielen die Schüsse, ein Feuerstoß. Die Leute haben begriffen, was uns erwartete. Alle Wertsachen sollte man zurücklassen. Es lagen Berge von Sachen und Lebensmitteln herum.

Es war Oktober. Tagsüber war es sonnig und warm, nachts aber sehr kalt. Die ganze Nacht standen wir Schlange, warteten bis wir dran waren. Einige hielten es nicht aus, starben an Herzinfarkt. Überall waren Leichen zu sehen.

Als die Sonne aufging hörte man wieder Feuerstöße. Ich nahm immer wieder Opa und Tante Rosa an der Hand und führte sie zum Schluss der Kolonne. Doch schließlich waren auch wir dran. Wir näherten uns dem Graben, von dort kam ein starker unangenehmer Gestank, der mich später sehr lange verfolgte. Als wir am Rande standen, schubste mich mein Opa… Was dann geschah, weiß ich nicht.

Als ich zu sich kam, spürte ich einen Druck, es war sehr kalt. Ich fing an zu kriechen, schließlich bin aus dem Graben herausgekrochen und plötzlich sah ich zwei Stiefel vor mir. Ich hob den Kopf hoch und sah einen Deutschen in Uniform vor mir stehen. Ich hatte ihn früher gesehen. Er war offensichtlich Dolmetscher, konnte Russisch. Ich dachte, er würde mich töten. Er sah mich an. Ich stammelte eine Geschichte heraus, dass ich hier zufällig bin, dass meine Eltern in Donbass wohnen. Er sagte, „Komm mit mir“, dann führte er mich zum riesen Sachenhaufen, zog ein großes Tuch heraus und wickelte mich darin ein, weil ich so schmutzig war, gab mir ein großes Brot und sagte, „Gehe in die Stadt“. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich wohnte hier nicht. Er sagte, ich sollte dem Polizist folgen. Der Polizist ging vor mir, ich folgte ihm.

Wir kamen in einen Hof, wo eine jüdische Familie mit zwei Kindern wohnte. Es gab nichts zu essen. Ich blieb ein paar Tage dort, dann nahm mich ein Kinderloses Paar namens Zubkov zu sich und ich blieb bei ihnen. Später hat jemand gemeldet, dass eine jüdische Tochter in der Familie lebt. Eines Morgens hörte man ein lautes Türklopfen, zwei Männer in Uniform traten ins Zimmer ein und sagten „Jude, Jude“. Maria Zubkova erzählte, ich wäre ihre Verwandte, aber sie hatte keine Beweisdokumente und ich wurde verhaftet.

Maria fuhr in ihr Heimatdorf, ging zum Priester und bat ihn um Hilfe. Er gab eine schriftliche Bestätigung, dass ich dort geboren wurde und mit dieser Familie verwandt bin. Das Dokument wurde in der Kommandantur vorgelegt und ich wurde befreit. Danach wurde ich von den Zubkovs adaptiert. Ich wurde Zubkova Nelli Vassiljewna. Eines Tages war ich krank. Meine Adoptiveltern waren im Dorf einkaufen und eine Freundin rief den Arzt. Ich erzählte der Ärztin meine Geschichte und sie fing an, nach meinen leiblichen Eltern zu suchen. Als meine Tante aus der Evakuierung zurückkam und zufällig diese Ärztin aufsuchte, wurde sie aufmerksam, weil wir den gleichen Namen hatten. Die Ärztin fragte sie, ob die Familie jemand vermisste. So hat man mich gefunden. Meine Eltern wurden per Telegramm informiert und am nächsten Tag kam mein Vater.